WG118 – Fragmente einer Briefreinschrift an Alma Mahler
Berlin, Montag, 23. Januar 1911
23.1.11.
Mein Lieb
ich komme aus – erschöpft – auf-
gewühlt. Du sollst gleich \Höre/ meine Eindrücke erfassen,
denn ich fühle das Bedürfnis, mich zu Dir aus-
zusprechen. Mir ist wirr zu Mute, wie einem,
der sich festklammern mußte, um nicht aus
seiner Bahn geworfen, \von seinen Idealen fortgelockt/ zu werden, wie einem,
der staunend ein fremdes Land betritt.
Freilich nach München erfaßte ich den Stil, seine
vollkommene Originalität \schnell/ wieder, aber damals
\in München/ kreutzten sich zu viele Ströme von Empfindungen
in meiner Brust, als daß mir auch der Ver-
stand \auch zu/ bewußtem Erkennen verholfen hätte.
Es war mir \heute/ alles neu und seltsam – ein
fremder, ferner Titan hat mich geschüttelt, mich
mit seinem kollossalischen Impuls mit
fortgerissen, alle Register des Herzens be-
rührt vom Dämonischen, \bis/ zu rührender Kinder-
einfalt. Das sich \ist/ wie \Auf/Streben, das aufrichtige \einsame/
Gottsuchen in diesem Werk hat mich ergriffen, \und das Edle, das Edle/
da ich mich natürlich \ja schon ehedem/ mit Teilnahme in das
Wesen seines Schöpfers versenken habe konnte,
aber – ich fürchtete mich vor dieser fremden
Stärke, denn meine Kunst wächst in ande-
rem Boden auf. Ich schrieb Dir zufällig gerade
von der καλὸ κ’ἀγαθα der Griechen, dem schönen
Geist und schönen Körper, von meiner religiösen
Anbetung dieser Zweiheit. Du verstehst den
übertragenen Sinn \auf die Kunst/? – Nun das habe ich auf
dem Herzen. Mir ist an diesem Abend abermals
vieles \wichtiges/ klar geworden über und Dich und –
mich; davon Auge in Auge, Du \bist ein/ reiner Engel.
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die findet man immer, wenn man will,
sondern sage mir ruhig, daß es Dir an
innerer Ruhe mangelt; Du tust mir
sehr wol wenn Du ganz offen bist, und
Deine Worte und Versprechen sind mir
so heilig, daß \ich/ kein gleichgültiges oder
oberflächliches dazwischen haben mag,
das nur verwirrend wirken kann.
Du brauchst nur mit wenig Worten
anzudeuten, ich werde verstehen; wenn
einer was von uns will und kann
blos stammeln, so ergreift er mehr als
flüssige Rede. Diese Wirkung von mir
auf Dich habe ich früher zu meinem Erstau-
nen häufig wahrgenommen.
Ich sitze ganz still am Schreibtisch und
lasse wieder die ganzen Bilder unserer
Liebe passieren; Unsere Nächte! die
Wagenfahrten in Graz – Toblach – Wien –
der Stefansdom – Haus Moll; welche
Erlebnisse wurden in 3 Monaten ge-
Preßt
Apparat
Überlieferung
, , , .
Quellenbeschreibung
2 Bl. (3 b. S.) – unbedrucktes Briefpapier.
Druck
, S. 102, bei Anm. 140 (längerer Auszug), , S. 48, bei Anm. 26 (kurzer Auszug), , S. 1099f. (fast vollständiger Auszug in engl. Übersetzung).
Korrespondenzstellen
keine
Datierung
Datierung WG: 23.1.11.
Interessant ist, dass in WGs eigener Liste abgeschickter Briefe (WG92) am 23. Januar 1911 kein Brief vermerkt ist, sondern stattdessen Briefe am 21.1.11. (Nr. 19) und 27.11.11. (Nr. 20) abgingen. Ob WG die Briefreinschrift vom 23. Januar nie absendete, ob er die Gedanken in einen späteren Brief aufnahm, lässt sich heute nicht mehr klären.
Übertragung/Mitarbeit
(Marie Apitz)
(Tim Reichert)
Gustavs 7. – Am 23. Januar 1911 besuchte eine Aufführung der von unter der Leitung von . Damit hörte er zum ersten Mal ein rein symphonisches Werk ohne Vokalanteile, von dem Zeitgenossen nur die leicht fassbaren Mittelsätze positiv rezipierten: „Man kann sie auch, ohne den Zusammenhang der Symphonie zu zerreißen, allein aufführen, wie das im vorigen Winter, so quasi als Kostprobe, mit einem Satze erfolgreich getan hat“ (, S. 239). hatte bereits vor einem Jahr dem Berliner Publikum den vierten Satz, die zweite Nachtmusik, dargeboten (, S. 35).
von Empfindungen – Durchstreichung revidiert.
Ich schrieb dir zufällig gerade – s. WG117 vom 19. bis 21. Januar 1911: καλοι κ’αγαθοι.
den übertragenen Sinn – s. von Empfindungen.
3 – Blattzählung. Blatt 2 dieser Reinschrift ist nicht erhalten, wurde möglicherweise als Bestandteil des fertigen Briefes an abgeschickt.